Verschiedene Führungsmodelle, soweit das Auge reicht: Die zukunftsweisende Mitarbeiterführung in den Unternehmen hat in Deutschland in vielen Fällen noch reichlich Luft nach oben. Insbesondere beim Thema Arbeitsorganisation treten im Hinblick auf Digitalisierung, VUKA und agile Methoden enorme Defizite zutage. Welche Ansätze es gibt, und an welchen Herausforderungen die Unternehmensführung bislang krankt – oder gar scheitert – beantwortet uns Barbara Wietasch, Partnerin der TCI, im ersten Teil der Interviewreihe.
Neue Arbeit braucht neue Führung, um den Wandel mit dem Shared LeaderShift© Modell zu gestalten – Barbara Wietasch im Interview
Schönen guten Tag Frau Wietasch, Sie haben sich in den letzten Monaten mit Ihrer Beraterkollegin Eva Maria Danzer aus München darüber Gedanken gemacht, wie es um die Unternehmen und deren Arbeitsorganisation bestellt ist. Daraus entstanden ist das neue Modell zur Organisationsentwicklung Shared LeaderShift©. Welche Herausforderungen beschäftigen denn heute die Unternehmen, sodass Sie glauben, ein anderes Organisations- und Führungsmodell muss mit den bestehenden Mythen aufräumen? Welche Herausforderungen beschäftigen die Unternehmen mit Zukunft?
Alle reden von disruptivem Wandel, von Digitalisierung, von New Work. Viele Unternehmen bleiben jedoch in Führungsstrukturen und Organisationsmodellen hängen, die aus dem letzten Jahrhundert stammen. Dazu gehören beispielsweise Top-Down-Ansätze, hierarchische Organigramme, lange Entscheidungswege, Überforderungen auf allen Ebenen und eine steigende Mitarbeiterzahl, die in der inneren Kündigung verharrt. So können Unternehmen auf dem Weg in die Zukunft – in die VUKA-Welt – wahrscheinlich nicht mithalten. Und daher muss Führung neu gedacht werden, denn die Innovationen und Veränderungen zeigen sich immer schneller und komplexer.
Die Antworten auf diese Herausforderungen sind inzwischen recht vielfältig – doch was gibt es denn schon alles?
Die Unternehmen machen in der Tat schon sehr viel, zum Beispiel Führungskräfte-Trainings, SCRUM-Zertifizierungen, Design Thinking für Innovationen und seit vielen, vielen Jahren Lean Management in der Produktion. Zudem schwappen seit Jahren immer neue Arbeitsformate zu uns nach Europa, Kanban-Boards in der Produktion, und auch mehr und mehr in den Projekthäusern und den Büros selbst. Im SCRUM und Design Thinking erhält der Kunde einen zentralen Platz (customer centricity), hinzu kommen die Theorie U von Otto Scharmer, die positive Psychologie oder die XY Theorie von Mc Gregor, Working Out Loud als Methode zum Einstieg in die Selbstorganisation, Peer-Coachings und Peer Learnings, und natürlich das Business-Partner-Modell im HR-Bereich. Und bei alledem stellen wir immer wieder fest: Irgendwie vernetzt es sich nicht über die Hierarchien und Silos hinweg und das Mitarbeiter-Engagement geht weiter in den Keller.
Was hat es denn mit der viel gefeierten Holokratie auf sich? Sollte diese dabei nicht Abhilfe schaffen?
Holokratie? Der Begriff stammt aus dem Griechischen von holos für ganz, vollständig und -kratie für Herrschaft (alle herrschen). Das bedeutet, dass in diesem Konzept eine höchstmögliche Transparenz in Bezug auf Entscheidungen und Prozesse besteht, an denen alle Mitarbeiter eines Unternehmens beteiligt werden sollen.
Bei der Holokratie dient alles dem Sinn und Zweck der Organisation. Die Arbeit wird ohne weitere Führung innerhalb von Zellen in Rollen organisiert, die in eine Kreisstruktur eingebettet sind. Verantwortung übernimmt man aus den Rollen und nicht aus der Stellenbeschreibung heraus. Insofern besteht die Holocracy Constitution aus strikten Regeln und gemeinsame Entscheidungen steuern die Zusammenarbeit, geben einen Rahmen, eine Governance. Nicht jede Organisation und nicht jeder Mitarbeitende ist dazu schon bereit.
Würden Sie also sagen, dass diese Neuerungen und Formate in den letzten Jahren oder Jahrzehnten letztendlich nur marginale Unterschiede aufweisen?
Zwar sind Hierarchien reduziert und Entscheidungen in die Breite verlagert worden, sodass nicht mehr einzelne Führungskräfte alles allein entscheiden muss. Trotz aller Bemühungen schleicht sich aber oft die alte Hierarchie wieder ein. Das zeigt sich zum Beispiel dann, wenn plötzlich der Chef schnell um Rat gefragt wird. Diese Konzepte sind alle weiterhin zu nah an der klassischen Top-Down-Struktur dran. Umdenken ist also mehr als nötig!
Und welche Rolle nimmt HR dabei ein?
Auch im Personal- beziehungsweise Human-Ressource-Bereich erleben wir neue Organisationsformate. Vor etwa 20 Jahren hielt das HR Business Partner Modell von Dave Ulrich Einzug in Universitätsausbildungen und Unternehmen, hier vor allem in Großunternehmen. Die Vor- und Nachteile des Modells werden seitdem diskutiert. Doch wo und wie wird es tatsächlich gelebt? Ist es schon wieder veraltet? Nein, bei Weitem nicht! Statt mit dem „Business Partner“ eine strategische Rolle zu besetzen, finden wir HR allerdings oft noch in administrativer und unterstützender Rolle. HR darf und muss sich auf Augenhöhe mit den Fachbereichen, der Geschäftsleitung, den Strategiepartnern positionieren, um so die Belange der Mitarbeiter, die Employee Centricity (Mitarbeiter-Zentrierung) ins Leben zu rufen und zu vertreten.
Wie geht es der Führung von heute: Wo sind die entscheidenden Defizite? Wo ist Veränderung unbedingt erforderlich?
Natürlich gibt es reihenweise mehr oder weniger „neue“ Führungsmodelle. Seit einiger Zeit ist das bereits 30 Jahre alte Servant Leadership-Modell wieder in aller Munde. Es geht davon aus, dass der Leader seine Follower gewinnt, indem er eigene Interessen hinter die der „Geführten“ zurückstellt.
Noch aktueller sind die Ansätze „Human Leadership“, das konsequent die Interessen des Menschen in den Fokus stellt. Oder auch „Connected Leadership“ und „Mindful Leadership“, bei denen das Thema Achtsamkeit und Selbstführung im Mittelpunkt stehen. Ganz neu sind die Happiness- oder Feel good-Verantwortlichen. Diese werden übrigens häufig als „Manager“ bezeichnet – wichtig ist hier allerdings, dass die Wurzel dieses Begriffs in der Beschreibung der Manege liegt.
Im Zentrum dieser Führungsmodelle steht jedoch immer die gemeinsame Augenhöhe im hierarchie-übergreifenden Umgang und die seitens der Mitarbeiter angestrebte Wertschätzung. Doch die gewünschten Ergebnisse stehen seit Jahren aus. Und damit sehen wir, dass es höchste Zeit ist für ein neues Verständnis – und das ganz dringend.
Vielen Dank, Frau Wietasch, für die spannenden Ausführungen zum Thema Führungsmodelle, wie diese in den Unternehmen umgesetzt werden und an welchen Schlüsselpunkten die Mitarbeiterführung noch entscheidend hapert. Wir freuen uns auf die Fortsetzung des Gesprächs in Teil Zwei des Interviews: Mitarbeiter zu Höchstleistungen motivieren: Ist das nötig und möglich?
Das Interview mit Barbara Wietasch führte die TCI-Redaktion.
Anmerkung der Redaktion: Lesen Sie gern auch die inzwischen veröffentlichten Teile Drei und Vier.
Über Ihre Autorinnen
Barbara Wietasch ist Master of Advanced Studies (MAS) als Personal- und Organisationsentwicklerin und begeistert sich seit mehr als 20 Jahren für die Begleitung von Menschen, Teams und Organisationen im Wandel, als Coach, als Trainerin und als Consultant. Ihre Wurzeln sind im Vertrieb & Marketing. Daher stehen für sie in allen organisationalen Veränderungen immer die Menschen – das heißt die internen und externen Kunden – im Fokus. Bei ihrer Arbeit geht sie grundlegend davon aus, dass Systeme die Lösung in sich tragen und kundig sind. Auf der Reise hin zu „New Work“ sieht sie sich als Brückenbauerin auf verschiedenen Ebenen.
Eva-Maria Danzer ist seit mehr als 25 Jahren Spezialistin für Menschen und Organisationen im Wandel. Sie ist Geschäftsführerin von „The Company Journey Guides“, einer Gesellschaft für Unternehmensentwicklung in München mit über 20 Personen. Sie verstehen sich als Entwicklungsbegleiter von Organisationen auf deren eigener Journey. Hierbei sind sie international tätig, insbesondere in vier Fokusbereichen: Mindset first, Leader-Shift, Hero Customer, Zeitgeist Learning & Organisational Development.
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