Trigger für agile Arbeitsweisen: Warum Unternehmen agil werden

Bernd Ettelbrück

Bernd Ettelbrück

9. April 2021

Der Megatrend Digitalisierung sorgt dafür, dass die Geschwindigkeit von Innovationen steigt. Unternehmen, die wachsen wollen, müssen ihre Strukturen schnell anpassen können, um im Wettbewerb zu bestehen. Bei all diesen Herausforderungen helfen agile Arbeitsweisen. Wie Unternehmen sie in der Praxis umsetzen und wie die neuen Arbeitsweisen in KMU und Großunternehmen etabliert werden, erfahren Sie anhand von Praxisbeispielen in diesem Beitrag von Bernd Ettelbrück.

Hinweis der TCI-Redaktion: Lesen Sie auch Teil 1 Agile Methoden im Mittelstand – Grundlagen, Herausforderungen und Handlungsempfehlungen sowie Teil 2 Best Practice und aus Fehlern lernen: Agilität in der Praxis umsetzen

Immer das gleiche oder immer neu? Agiles vs. klassisches Projektmanagement

Agilität kann nur durch viele unterschiedliche Impulse erfolgen, z.B. durch Schulungen, durch Besuche bei Best Practice Unternehmen, die solche Verfahren einsetzen, durch die Bereitschaft der Geschäftsführung, Entwicklungsabläufe anzupassen und neu zu denken. Auch das ist eine Veränderung: Klassischerweise setzt die Geschäftsführung einen starken Impuls, den sie mit unterschiedlichen Maßnahmen unterstützt und verfolgt. Immer wieder das Gleiche konsequent und nachhaltig zu tun, bedeutet Erfolg. Das ist beim agilen Arbeiten anders: hier werden immer wieder neue, andere Impulse gesetzt, das Unternehmenssystem wird vielfältig „gestört“, um Veränderungen zu initiieren.

Von Handarbeit zu Kopfarbeit

Eine fundamentale Veränderung unserer Arbeitswelt begünstigt den Einsatz agiler Methoden: Die Verlagerung der Wertschöpfung von der Hand- zur Kopfarbeit. Individuelle Fähigkeiten und gutes Zusammenarbeiten im „Netzwerk“ des Unternehmens werden wichtiger.

Wie werden Unternehmen agil? Kleine Schritte gehen

Die genaue Ausgestaltung im Unternehmen bleibt jedoch ein Spannungsfeld. Einen Königsweg oder die beste Empfehlung gibt es nicht. Stets sollte über Pilotprojekte gestartet werden in dann in der Art eines Zwiebelschalenmodells zunächst im direkten Umfeld weitergearbeitet werden. Zum Beispiel beginnt ein Entwicklungsteam, im Anschluss bezieht das Unternehmen die IT-Abteilung ein, später ein Serviceteam, das ergänzende Dienstleistungen bereitstellt. Eine Alternative könnte das Vorgehen nach agilen Reifegraden sein. Dazu beginnt das Team, das bereits mit agilen Methoden Erfahrung gesammelt hat oder besonders affin ist, z.B. das IT-Anwendungsentwicklungsteam.

Agile Arbeitsweisen: Auslöser für die Einführung

Im Wesentlichen gibt es drei Trigger für die Einführung agiler Arbeitsweisen in Unternehmen.

1.      Schnelles Wachstum

Unternehmen wachsen. Zuerst sind kleine Teile da, sie werden organisiert, es wird zusammengefügt, wächst weiter und schließlich entsteht kein Wolkenkratzer, sondern ein Kompromiss. Um sich selbst nicht zu blockieren oder wertvolle Ressourcen im Overhead zu binden, setzen solche Unternehmen auf eigenständige Teams und mehr Autonomie.

2.      Intensiver Wettbewerb

Eine veränderte Wettbewerbssituation, neue Player am Markt, enger vernetze Lieferketten, anspruchsvollere Kunden und wachsender Preisdruck sind Gründe, die Effizienz zu steigern, Lieferzeiten zu verkürzen und Prozesse zu beschleunigen.

3.      Führung und Leadership

Menschen gestalten Prozesse, Gruppen entscheiden, Mitarbeitende sprechen mit Kunden. Sie sollen befähigt werden, schneller zu reagieren, ohne lange Rücksprachen in hierarchischen Gebilden halten zu müssen. Das beschleunigt Entscheidungen und fördert autonomes Arbeiten. Agiles Arbeiten im Unternehmen ist betriebliche Notwendigkeit und eine Personalentwicklungsmaßnahme in einem. Kennzeichen der Agilität ist das Mindset, nicht die Wahl der Methoden. Drei Elemente machen den Erfolg agiler Teams aus: Transparenz, Vertrauen und iterative Führung. So gibt es meist parallele Führung: Der Teamcoach neben dem Leadership Team.

Agilität und Digitale Transformation sind eng miteinander verbunden

Wie sich Unternehmen mithilfe der Einführung agiler Methoden erfolgreich an veränderte Rahmenbedingungen angepasst haben, zeigen die folgenden Praxisbeispiele.

Viessmann: Agile Arbeitsweisen als Reaktion auf zunehmende Vernetzung

Die Firma Viessmann startete die Transformation 2015 auf Anregung des Seniorchefs. Der Markt veränderte sich durch Vernetzung. Heizsysteme waren in ein Ecosystem eingebunden: Start-ups mit neuen Ideen kamen auf, Aggregatoren integrierten Heizsysteme, Energieunternehmen und Serviceanbieter, neue Wettbewerber wie RWE und Telekommunikationsunternehmen drängten auf den Markt. Der Servicebereich wurde immer wichtiger und mit dem Einsatz von Sensoren und Machine-to-Machine (m2m) communication in beheizten Räumen und Gebäuden wurde die Heizanlage zu einem System im Verbund mit anderen. So wie sich Heizsysteme vernetzten, musste sich das Unternehmen Viessmann vernetzen, um im Wettbewerb zu bestehen und schuf ein eigenes Unternehmen in Berlin. Zentraler Erfolgsbaustein war die Mitarbeiterkommunikation, damit sie die Transformation mittrugen. Agile Methoden sind immer auch mit einem Kulturwandel verbunden, der sich nur mit intrinsischer Motivation der Mitarbeitenden realisieren lässt.

moovel: Mehr Selbstorganisation und Innovation durch agile Arbeitsweisen

Bei moovel sind informelle Netzwerke der Motor für Selbstorganisation und Innovation, wie Thorsten Heilig, Head of People & Organization bei moovel es ausdrückt. moovel ist die Mobility Tochter von Daimler – und Kooperationspartner von BMW. Mobilität ist ein sehr dynamischer Markt unter starkem internationalen Wettbewerbsdruck. In diesem Umfeld möchte sich moovel behaupten, schnell reagieren, stark wachsen und gemeinsam mit einem neuen Partner erfolgreich sein, ohne die eigene Kultur zu verlieren.

Um Produkt- und Userzentrierung zu verbessern, arbeitet moovel mit einer Squad Logik, wie sie auch Spotify umgesetzt hat (Mehr dazu in Teil 2 dieser Reihe Best Practice und aus Fehlern lernen: Agilität in der Praxis umsetzen). Dies ist jedoch fast nur in Großunternehmen möglich, da der personelle Aufwand hoch ist, wenn mehrere Teams parallel arbeiten. Für KMU ist Fokussierung entscheidend – sonst leidet die Gesamtperformance.

Bei den Mobility Services geht es um ein Bündel von Produkten, die Nutzern über eine Plattform oder eine App zur Verfügung gestellt werden. Die Herausforderungen: Schnittstellen, Integration von Anwendungen, genauer Zuschnitt auf die Anforderungen der Nutzer. Dazu müssen z. B. mehrere Verkehrsmittel integriert werden, um einen Transportwunsch von Ort A zu Ort B mit einem oder sehr wenigen Klicks umzusetzen. Im internationalen Wettbewerb mit anderen Herstellern und zahlreichen Start-ups zählt Geschwindigkeit. Diese hohe Geschwindigkeit wird durch parallele agile Teams, die sich nur in einzelnen Punkten abstimmen müssen, ermöglicht. Das Ergebnis: niedrigere Durchlaufzeiten und mehr Produkte pro Quartal bei gleichem Ressourcenaufwand.

Eine Lehre ist: jedes Produkt braucht eine individuelle Organisation. So gibt es z. B. feature-basierte Produkte, bei denen einzelne Leistungsmerkmale im Vordergrund stehen oder „Mini-Produkte“, also kleine ergänzende Services oder Zusätze zu vorhandenen Produkten. Den anderen Pol bilden umfangreiche Produkte und komplette Mobilitätslösungen, die eine end-to-end Verantwortung des Teams erfordern, um die (selbst-)gesetzten Ziele zu erreichen. Hier empfiehlt es sich auszuprobieren, welche agile Arbeitsweise oder Methode sich hierfür eignet, denn Veränderungen in Prozessen und der Organisation erfolgen iterativ.

Zalando: Wachstum durch Agilität

Zalando ist ein Beispiel für das erfolgreiche Bewältigen von Wachstumsschmerzen. Zu Beginn war das Unternehmen ein kleiner Online-Händler, der von Anfang an in einer Teamstruktur arbeitete – deren Zahl sich stetig vergrößerte. Für Online-Händler sind die IT-Strukturen entlang der Wertschöpfungskette essenziell. Von Änderungen waren gleich viele andere Teams betroffen. Das führte zu rigiden Prozessen. Strikte Vorgaben verhindern aber Experimente, Veränderungen und Innovation.

Als erstes wurde die Teamstruktur verändert, aus mehreren funktionalen Teams wurde ein Team, das alle Fähigkeiten vereint, also Entwicklung, Produkt, Design und Qualität. Die Teamgröße sollte sich zwischen fünf und maximal 12 Personen bewegen. Größere Teams wurden geteilt. In 18-monatigen Trainings wurden übergreifende, fachliche Fähigkeiten weiterentwickelt.

Die Zalando-Teams führen sich selbst nach den Prinzipien Purpose, Autonomy und Mastery. Sie setzen sich ihre Ziele, arbeiten autonom, und prüfen ihre Arbeitsfortschritte. Jedes Team hat, auch durch die Teamzusammensetzung, die end-to-end Verantwortung. Dieser Dreiklang ist wichtig, insbesondere das Verknüpfen von Teamautonomie und der Ende-zu-Ende Verantwortung für ein Ergebnis, einen Prozess, eine Anwendung oder ein Produkt. Denn Autonomie ohne Verantwortung nennt man Ferien.

Zalando misst folgende positive Ergebnisse:

  • Mehr Releases
  • Höhere Taktung an Projekten
  • Gestiegene Kundenzufriedenheit
  • Höhere Mitarbeiterzufriedenheit

Gearbeitet wird nach dem Motto „fail fast, fail forward“. Die Teams arbeiten parallel und minimieren ihre „Alignment Points“, d. h. Abstimmungsmeetings. Iterative Zyklen aus Teamarbeit, Abgleich mit den Zielvorgaben und Abstimmungen zwischen den Teams schaffen Rituale, die Sicherheit geben, zu Effizienz führen und helfen, Prozesse zu standardisieren. Im nächsten Schritt können sie vielleicht automatisiert werden. Darin liegt ein Effizienzvorteil durch die Umsetzung agiler Methoden im Unternehmen – nicht in der Methode an sich.

Die beiden wesentlichen Erfolgskriterien der Zalando Teams sind: engagierte Verantwortung für die komplette Aufgabe und dass jedes Team alle für die Lösung der Aufgabe notwendigen Kompetenzen vereint. Die Herausforderung ist, Entscheidungen an die Problemstellung anzupassen, bzw. die Herausforderungen so zu formulieren, dass daraus eine geeignete Teamaufgabe ableitbar ist.

Themen werden in vielen Teams bearbeitet und der relative Arbeitsfortschritt beurteilt. Das trägt dazu bei, dass sich Teams gegenseitig helfen, um eine Aufgabe abzuschließen. Das ist die Folge knapper Ressourcen, wie es sie in jedem Unternehmen gibt. Um die Ressourcen besser zu allokieren, wurde eine transparente Priorisierungsregel erarbeitet:

  1. Was ist gut für den Kunden?
  2. Was ist wichtig für die Firma?
  3. Was hilft auf dem Regionalmarkt?

Grundsatz bei der Teamarbeit ist Spezialisierung – „lieber tiefer als breiter“. Knappe Ressourcen fördern diese Herangehensweise. Grundsätzlich gilt, dass ein schmaler Scope ein Zeichen von Erfolg ist.

TAKKT 4.0: Agile Arbeitsweisen zur Bewältigung der digitalen Transformation

Die TAKKT-Gruppe produziert und vertreibt Geschäftsausstattungen und besondere Ausrüstungsgegenstände an Firmenkunden weltweit. Das Unternehmen hat 16 Marken, rund 300.000 Produkte, drei Millionen Kunden, und setzt an 70 Standorten gut eine Milliarde Euro um. Takkt betreibt dazu zwei Geschäftsmodelle:

  1. Der Omnichannel Commerce bedient definierte, große Kunden über mehrere Kanäle und eine gezielte Ansprache und verkauft kundenindividuelle Produkte, wie z. B. speziell gefertigte Hubwagen für Automobilhersteller.
  2. Im Web-Focused Commerce wird ein breites Sortiment angeboten. Hier gibt es weniger Beratung und es wird vorwiegend über das Internet verkauft. Der Kundenvorteil ist die einfache Beschaffung zu attraktiven Preisen.

Mit der Initiative TAKKT 4.0 ist das Unternehmen neu ausgerichtet. Ziele sind Wachstum, Nachhaltigkeit und ein konsequenter Einsatz digitaler Technologien. Dies folgte der Erkenntnis, dass sich das Kaufverhalten und die Arbeitsumgebung in den Unternehmen schnell verändern. Das Unternehmen sieht beide Geschäftsmodelle als besonders geeignet, von diesen Entwicklungen zu profitieren und nachhaltig organisch zu wachsen.

Für TAKKT gibt es drei zentrale Schlüsselaktivitäten für eine erfolgreiche Digitale Transformation: die Digitalisierung der gesamten Wertschöpfungskette, die Einführung agilerer Unternehmensstrukturen und den Aufbau innovativer Geschäftsmodelle. Die Vision 2020 umfasste dabei die folgenden Ziele:

  • Das E-Commerce-Geschäft soll in fünf Jahren verdoppelt werden. Das soll mit hervorragenden Kundenerlebnissen im Web erreicht werden.
  • Die Organisation wird sich nachhaltig verändern, bestehende erfolgreiche Geschäftsmodells sollen digitalisiert an den Anforderungen ihrer Kunden ausgerichtet werden.
  • Mittelfristig soll sich mit der Umsetzung der Digitalen Agenda das organische Umsatzwachstum erhöhen.

Die Maßnahmen der Digitalen Agenda sind entlang von sechs Handlungsfeldern strukturiert:

  • Strategie & Innovation: Mit innovativen Methoden werden neue Lösungen und Angebote für die Kunden entwickelt.
  • Customer Journey: Das unternehmerische Handeln wird am Entscheidungs- und Kaufverhalten definierter Kunden ausgerichtet.
  • Organisation & Kultur: Die Firmenkultur soll sich verändern und agileres und flexibleres Arbeiten in bereichsübergreifenden Teams fördern.
  • Daten & Analytik: Verstärkter Einsatz von Datenanalyse mit dem Zweck, die Kaufentscheidungsprozesse besser zu verstehen und hieraus für die Kunden passgenaue Lösungen zu entwickeln.
  • Technologie: Modernisierung der bestehenden und Einführung neuer Technologien als Voraussetzung für die Erreichung der mit der Digitalen Transformation verbundenen Ziele.
  • Prozessautomatisierung: Der Standardisierung folgt die Automatisierung manueller Tätigkeiten. Das beschleunigt Prozesse und erhöht in der Folge die Kundenzufriedenheit.

Im Handlungsfeld Organisation und Kultur nutzen die TAKKT-Gesellschaften in zunehmendem Maße agile Arbeitsweisen wie Design Thinking oder Scrum. Ziel war die Initiierung eines nachhaltigen Wandels der Führungskultur in Richtung agilen Arbeitens sowie das Übertragen von Gestaltungsfreiheit und Verantwortung auf einzelne Teams. Dazu wurden über sechzig internationale Führungskräfte eine Woche in einem „Leadership in the Digital Age“-Training geschult. Das Training wurde durch Workshops und Firmenbesuche ergänzt. Außerdem wurden die Räumlichkeiten an mehreren Standorten umgestaltet, um Kreativität zu fördern und die Zusammenarbeit zu vereinfachen. Das Unternehmen stellte zudem zahlreiche neue Mitarbeiter mit ausgeprägtem digitalem Know-how für die Themen Online-Marketing und Webshop Development ein.

Diese Maßnahmen sollen eine Test & Learn-Kultur schaffen und die digitale Transformation des Unternehmens fördern.

Das Beispiel TAKKT zeigt exemplarisch, wie ein Blueprint für eine digitale Transformation eines größeren Unternehmens im Mittelstand mit mehreren Standorten Aussehen kann.

Im Unterschied zu den beiden anderen Beispielen, Zalando und moovel, ist das Thema Agilität bei TAKKT im Unternehmen nicht handlungsleitend, sondern eher eine Kulturmaßnahme, die Maßnahmen und Projekte begleitet. Der Veränderungsbedarf in der Organisation ist dadurch nicht so groß, die Messung eines zurechenbaren Mehrwerts durch Agilität im Unternehmen entsprechend schwer, wenn nicht unmöglich.

Was bringen also agile Arbeitsweisen im Unternehmen und wie lässt sich Erfolg messen? Mit dieser Frage befasst sich Teil 4 der Reihe „Agilität im Unternehmen“.

Quelle Coverbild: Bild: © fizkes | Adobe Stock

Über den Autor

Bernd Ettelbrück

Bernd Ettelbrück

Bernd Ettelbrück verfügt über langjährige internationale Linien- und Projekterfahrung, u.a. in der Telekommunikationsindustrie, im Patent- und Produktmanagement sowie Innovationsmanagement; aktueller Fokus: Maschinenbau und Automobilzulieferindustrie.

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