Best Practice und aus Fehlern lernen: Agilität in der Praxis umsetzen

Bernd Ettelbrück

Bernd Ettelbrück

26. März 2021

„Gute Entscheidungen entstehen aus Erfahrungen. Erfahrungen sind die Folge von schlechten Entscheidungen. Entscheidungen sind erlernt und verdient.“ (Bernd Ettelbrück)

Zahlreiche Unternehmen arbeiten heute bereits nach agilen Methoden. Doch nur in den seltensten Fällen wenden sie die agilen Prinzipien tatsächlich konsequent an. Der erfahrene Projektmanager Bernd Ettelbrück zeigt in diesem Artikel einige Beispiele bekannter Unternehmen, die auf agile Arbeitsweisen umgestellt haben – und ob und wie sie Erfolge erzielten. Die Spanne reicht von Best Practice bis hin zum Misserfolg.

Anmerkung der TCI-Redaktion: Hier geht’s direkt zu Teil 1 der Reihe „Agile Methoden im Mittelstand: Grundlagen, Herausforderungen und Handlungsempfehlungen“

Die Tücke mit Beispielen und Referenzen – warum sich Best Practice nicht einfach kopieren lässt

Beispiele und Referenzen lesen sich meist leicht. Die dargestellten Zusammenhänge leuchten ein und sind sehr gut nachvollziehbar. Sehr viel mühevoller ist das Übertragen der Erkenntnisse der Beispiele auf das eigene Unternehmen. Zwischen einem Konzept und dessen Umsetzung ist ein großer Unterschied. Ein weiterer Grund wird oft übersehen: Ein Beispiel besteht immer aus zwei Teilen, einem normativen Teil mit den Prinzipien, aus denen die „Learnings“ abgeleitet werden und einem präskriptiven Teil, der die Umstände, Zusammenhänge, äußeren Faktoren und Gegebenheiten beschreibt. Beides gehört zusammen; bei einer Referenz wird fast immer der präskriptive Teil weggelassen und nur das normative Regelwerk berichtet. Das ist dann einfach, anschaulich und meist gut nachvollziehbar.

Grafische Darstellung Uebertragbarkeit von Best Practice von Unternehmen zu Unternehmen
Die Übertragung von Beispielen oder Prinzipien in die Praxis des eigenen Unternehmens birgt oft Tücken. (Bild: © Bernd Ettelbrück)

Best Practice Beispiele für Agilität

In den Medien lesen wir meist nur von den Erfolgsgeschichten der Großunternehmen – doch Agilitäts-Erfolgsstorys finden wir mittlerweile in der gesamten Unternehmenslandschaft: Vom Startup über Diözesen bis hin zur US Navy verändern Organisationen erfolgreich Führungsstrukturen und Prozesse (Mehr dazu in Teil 2 dieses Beitrags Agile Methoden im Mittelstand: Grundlagen, Herausforderungen und Handlungsempfehlungen).

Agile Werte und ihre Umsetzung in der Praxis

Die vier Werte des Agilen Manifestes lauten:

  1. Individuen und Interaktionen haben Vorrang vor Prozessen und Werkzeugen.
  2. Funktionsfähige Produkte haben Vorrang vor umfassender Dokumentation.
  3. Zusammenarbeit mit den Kunden hat Vorrang vor Vertragsverhandlungen.
  4. Das Eingehen auf Änderungen hat Vorrang vor strikter Planverfolgung.

Diese vier Prinzipien sind nachvollziehbar und für viele Unternehmen ein neues Paradigma. Allerdings darf „Vorrang haben“ nicht mit „statt“ verwechselt werden. Denn beides ist wichtig, sowohl das Einhalten von Plänen als auch die Flexibilität, auf Veränderungen im Umfeld zu achten und Pläne zu adaptieren. Diese Flexibilität bedeutet nicht, planlos zu arbeiten und in eine Art „Brandbekämpfungsmodus“ zu verfallen, bei dem immer nur das gemacht wird, was aktuell und dringlich erscheint.

Best Practice: Agilität praxisorientiert umsetzen

Die folgenden Beispiele zeigen, wie bekannte Unternehmen das Prinzip der Agilität für sich erfolgreich adaptiert haben. So viel vorweg: Es kommt nicht darauf an, möglichst dogmatisch alle Prinzipien zu verwirklichen. Vielmehr geht es darum, praktikable Lösungen zu etablieren, die Prozesse verschlanken und die Arbeit für die Menschen effizienter und einfacher machen.

Das Scaled Agile Framework SAFe®

Große Unternehmen wie Accenture, Intel, Sony oder Siemens verwenden das Scaled Agile Framework SAFe®. Dabei wird der Scrum Ansatz auf mehrere Bereiche oder ein ganzes Unternehmen skaliert und die Arbeit an den lean-agilen Prinzipien ausgerichtet. Die am häufigsten berichteten Mehrwerte sind verkürzte Lieferzeiten durch verbesserte Prozesse und eine bessere Ausrichtung an die Ziele des Unternehmens oder Geschäftsbereichs. Das erste Prinzip des Manifests wird bei SAFe® ignoriert, da Prozesse über den Individuen stehen.

Adidas: Schnellere Produktinnovationen durch agile Methoden

Adidas wollte schneller und innovativer werden und begann agil zu arbeiten. Die Führung und die Führungsstruktur wurden agil. Das Unternehmen entschied sich bewusst gegen ein Digital Lab, also eine ausgegliederte Organisationseinheit, die sich der Innovation und Digitalisierung verschreibt, sondern konzentrierte sich darauf, das agile Arbeiten im Gesamtunternehmen umzusetzen. Adidas ist eine sehr erfolgreiche Sportmarke, sie schafft es besser als die meisten Marktbegleiter, Trends aufzugreifen und in neuartige Produkte vor allem für junge Käuferinnen umzusetzen. Inwieweit das ursächlich auf agiles Arbeiten zurückzuführen ist, bleibt unklar. Nach wie vor arbeitet Adidas mit Leitsätzen und klar definierten Kompetenzen und bedient dadurch vor allem das vierte Prinzip aus dem Manifest.

Holtzbrinck Gruppe: Kanban in der Rechtsabteilung

Die Holtzbrinck Gruppe setzt Kanban recht erfolgreich in der Rechtsabteilung ein. Grundgedanke war, durch höhere Transparenz der bearbeiteten Fälle und das Teilen von Wissen und Ansätzen der einzelnen Rechtsexperten zu kundenorientierteren Lösungen zu kommen. Der Rechtsabteilung brachte die Abkehr von der individuellen Fallbearbeitung einen größeren Wissenszuwachs für alle und mehr „Musterlösungen“ für juristische Herausforderungen. Das setzt den ersten Wert des Manifests um.

Spotify: Agiles Arbeiten mit Squads und Tribes

Agiles Arbeiten mit Squads ist ein Begriff, den Spotify geprägt hat. Squads, zu Deutsch „Mannschaft“ oder „Truppe“ sind skalierte Scrum Teams, also mehrere Scrum Teams nebeneinander. Die Herausforderung ist, diese Teams zu koordinieren. Dazu lässt man Teams parallel und unabhängig voneinander arbeiten. An vorher definierten Wegmarken finden Abstimmungsgespräche statt – und beginnt dann eine neue Iterationsphase. Mehrere Squads bilden einen „Tribe“. Viele Großunternehmen haben den Begriff Tribe eingeführt und haben Heads of Tribes – eine Art Abteilungsleiter, der einzelne Teams führt. Das Ziel ist, eine agilere Teamorganisation aufzubauen. Das Beispiel Spotify wird oft zitiert, allerdings erwirtschaftet das Unternehmen bis heute keinen Gewinn und möchte jetzt an die Börse. Der monetäre Erfolg blieb bislang aus. Die Erlöse aus den kostenpflichtigen Abonnements decken die GEMA Gebühren bislang nicht. Das Beispiel zeigt: Agiles Arbeiten repariert unzureichende Geschäftsmodelle nicht.

Swisscom: Agilität in einzelnen Bereichen umsetzen

Einige mittlere Unternehmensberatungen und einzelne Geschäftsbereiche der Swisscom setzen auf autonome Teams, die Einzelentscheidungen treffen und umsetzen. Idee ist, dass Experten, die etwas vom Thema verstehen, Entscheidungen gemeinsam mit den von der Entscheidung Betroffenen treffen – und zwar einzeln und unabhängig voneinander. Merken jedoch andere Gruppen im Unternehmen oder das Management, dass eine Entscheidung negative Auswirkungen hat, wird sie verbessert oder neu getroffen. Das Unternehmen verfolgt keine Grundsatzplanungen mehr, sondern verbessert fortlaufend seine Entscheidungen. Dieses Führungsinstrument nennt man Holokratie oder Holacracy. Der Begriff stammt aus dem Griechischen – „holos“ bedeutet „ganz, vollständig“, „kratía“ heißt „Herrschaft“. Das Beispiel Swisscom zeigt, dass dieses agile Vorgehen auch in einzelnen Bereichen umsetzbar ist, während andere Teile des Unternehmens noch klassisch arbeiten.

Fazit: Pragmatismus statt Dogmatismus zeichnen Best Practice aus

Es gibt nur wenige Unternehmen, die sich komplett der Agilität verschrieben haben und diese in allen Bereichen umsetzen, Werte des agilen Manifests werden nicht konsequent umgesetzt. Die Erfolge agilen Arbeitens in den aufgeführten Beispielen sind jedoch nicht durchweg überzeugend und nur bedingt agilen Arbeitsweisen eindeutig zuzurechnen. Entscheidend sind daher noch weitere Aspekte: Die Betrachtung der Rahmenbedingungen und Auslöser, die zur Entscheidung für agiles Arbeiten geführt haben (Mehr dazu in Teil 3 dieser Reihe) sowie geeignete Steuerungssysteme und Kriterien der Erfolgsmessung (Mehr dazu erfahren Sie in Teil 4 dieser Reihe) agiler Arbeitsweisen.

Quelle Coverbild: © photon_photo | Adobe Stock

Über den Autor

Bernd Ettelbrück

Bernd Ettelbrück

Bernd Ettelbrück verfügt über langjährige internationale Linien- und Projekterfahrung, u.a. in der Telekommunikationsindustrie, im Patent- und Produktmanagement sowie Innovationsmanagement; aktueller Fokus: Maschinenbau und Automobilzulieferindustrie.

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