In einer aktuellen Studie (Stand 2020) der IUBH Internationale Hochschule wurden 247 Führungskräfte aus mittelständischen Unternehmen zur Agilität befragt. Über 75 % der befragten mittelständischen Unternehmen gaben an, bereits eine agile Strategie zu verfolgen. 11 % bezeichneten die Bedeutung von Agilität sogar als dominant in ihrer Gesamtunternehmensstrategie. TCI-Partner Bernd Ettelbrück befasst sich in seinem Beitrag mit der Frage, wie mittelständische Unternehmen von agilen Grundgedanken in der Geschäftsstrategie und dem Projektmanagement profitieren können.
Kennzeichen agiler Organisationsweisen
Agile Organisationsweisen zeichnen sich aus durch
- höheren Einfluss des Kunden auf Unternehmensaktivitäten
- verteilte Entscheidungskompetenzen anhand von Fähigkeiten und innerem Antrieb statt anhand der Hierarchie
- eigenverantwortliche Teams in selbstorganisierten Prozessen statt in straffen Strukturen.
Erfolgreiche mittelständische Organisationen arbeiten bereits lange so und waren damit schon länger agil, nannten das aber nicht so. Ändert man die Managementmethode, stellen sich Effekte ein, die es vorab zu bedenken gilt.
Qualität, niedrige Kosten und Fokussierung auf Kernkompetenzen reichen heute nicht mehr aus. Schnelligkeit und Anpassungsfähigkeit an veränderte Marktbedingungen sind für den Erfolg mindestens genauso wichtig. Vertrauen in die Mitarbeitenden, Verständnis für Fehler und die Bereitschaft zum gemeinsamen Lernen sind wichtiger als die agilen Methoden selbst.
Agile Methoden: Herkunft und Zielsetzung
Unternehmen müssen zunehmend Ziele treffen, die sich verändern. Dieses Agieren in der VUKA-Welt, einer Umgebung, die durch Veränderung, Unsicherheit, zunehmende Komplexität und Mehrdeutigkeit geprägt ist, wirkt sich auf das unternehmerische Handeln aus. Kunden und Unternehmen erwarten mehr Flexibilität und eine höhere Reaktionsgeschwindigkeit auf Veränderungen der Anforderungen und des Marktgeschehens. Agilität und Flexibilität werden zwar häufig synonym verwendet, haben aber unterschiedliche Bedeutungen: Während Flexibilität reaktive Anpassungsfähigkeit meint, stellt Agilität das aktive Handeln in den Vordergrund.
Agilität – ein Konzept aus der Software-Entwicklung
Im Jahr 2001 trafen sich 17 Softwareprogrammierer um Kent Bent zum Ski-Urlaub in Colorado. In gemeinsamen Gesprächen entwickelten Sie das „Manifesto for Agile Software Development“, welches auf vier Werten beruht:
- Bei der Softwareentwicklung sollte der Fokus mehr auf den Individuen und deren Interaktionen liegen und weniger auf den Prozessen und Werkzeugen.
- Eine funktionierende Software ist wichtiger als deren Dokumentation.
- Das Zusammenarbeiten mit dem Kunden ist wichtiger als das Aushandeln von Verträgen.
- Reagieren auf veränderte Anforderungen ist wichtiger als das Erfüllen eines Plans.
Agile Methoden im Mittelstand
Zu diesen Werten sollte das Management mittelständischer Unternehmen stehen, die agil arbeiten wollen. Daraus wurden insgesamt zwölf Prinzipien abgeleitet, darunter zum Beispiel:
- Höchste Priorität hat das frühe und kontinuierliche Ausliefern der Software an den Kunden.
- Anforderungsänderungen während der Umsetzung sind willkommen, um den Kunden zufrieden zu stellen.
- Teillieferungen sollten stets eine funktionierende Einheit darstellen.
- Enges Zusammenarbeiten und regelmäßiger Austausch von Entwicklern und Mitarbeitenden der Fachabteilungen.
- Teams sollten selbststeuernd und eigenständig arbeiten.
Diese Instrumente und Techniken werden in Prozessen und Aufgabenbeschreibungen, das heißt Rollen, zusammengefasst und bilden die agilen Methoden. Beim Einsatz agiler Methoden im Projektmanagement zeigen sich bei Umfragen wesentlich bessere Werte gegenüber den klassischen Methoden in den Kategorien Ergebnisqualität, Time to Market und Kundenzufriedenheit.
Vorteile agiler Methoden gegenüber klassischem Projektmanagement
Bei der Recherche zu diesem Beitrag wurden 35 agile Methoden identifiziert. Agile Methoden unterstützen die Alltagsarbeit (14), die Führung (2), das Projektmanagement (4), das Produktmanagement (7), Innovationen (6) und die Unternehmensorganisation (2). Es gibt also nicht „die“ agile Methode, sondern Vorgehensweisen, die die jeweilige Arbeit unterstützen.
Allen gemeinsam sind die agilen Werte, Prinzipien und das Ziel flexibler und schneller zu werden. Das Unternehmen wird potenziell flexibler und schneller, weil Entscheidungen im Team getroffen werden und aufwendige Kontrollmechanismen entfallen.
Geringeres Risiko
Ein weiterer Aspekt ist das geringere Risiko agilen Arbeitens in Projekten. Im sogenannten Wasserfallverfahren werden in allen Teilprojekten bzw. Arbeitspaketen Bausteine erarbeitet, die erst am Ende zur Lösung zusammen gefügt werden. Projektlaufzeit und der Budgetverbrauch schreiten fort und erst kurz vor dem Ende wird die Gesamtlösung deutlich. Anders beim agilen Vorgehen, wo ein funktionsfähiges, sogenanntes Minimal Viable Product (MVP) definiert und dann mit einem Teil des Budgets in kurzer Zeit realisiert wird. Dadurch wird zu einem frühen Zeitpunkt und einem geringen Budgetverbrauch deutlich, ob der Kundenwunsch oder das Entwicklungsziel erreichbar und realistisch sind.
Agiles Handeln ist keine „Gesinnungsfrage“, sondern betriebswirtschaftliches Kalkül. Kann ein bestimmtes Unternehmensziel besser mit agilen Methoden erreicht werden oder nicht? Agilität kostet Geld. Prozesse, Aufgabenbeschreibungen (Rollen), Führungskräfte und Mitarbeitende sind zu schulen. Das Projekt dauert länger, da zunächst methodisch und nicht inhaltlich gearbeitet wird. Agiles Arbeiten macht zunächst im günstigen Fall effektiver, da es die Ressourcen besser ausrichtet. Die Effizienz muss sich danach in der Skalierung des Einsatzes durch Kosteneinsparungen zeigen – entweder durch kürzere Projektlaufzeiten oder einem geringeren Steuerungs- und Kontrollaufwand.
Ein Projekt agil zu machen und ansonsten nichts zu ändern bringt daher keinen Mehrwert.
Entscheidungskriterien für den Einsatz von agilen Methoden im Mittelstand
Wenn folgende Kriterien erfüllt sind, sollte sich ein mittelständisches Unternehmen intensiv mit agilen Methoden beschäftigen:
- Die „Stacey Matrix“ ist ein Koordinatensystem, das Projekte nach der Wahrscheinlichkeit, mit der die Anforderungen an die Lösung beschrieben werden können und der Wahrscheinlichkeit, mit der der Lösungsweg bekannt ist, einordnet. Daraus ergibt sich ein Raum, der von einfach über kompliziert, komplex bis chaotisch beschrieben wird. Projekte können dann entweder mit klassischen oder agilen Methoden bearbeitet werden.
- Das Unternehmen sollte serviceaffin sein. Das heißt, die Produkte sollten durch Services ergänzt werden, oder das Unternehmen ist ein Dienstleistungsunternehmen, das nur Services anbietet.
- Gut sind Erfahrungen in der Softwareentwicklung. Wenn ein Unternehmen in diesem Bereich bereits Erfahrungen in der agilen Softwareentwicklung hat, können diese Erkenntnisse leichter in anderen Geschäftseinheiten angewendet werden.
- Wenn für die Erstellung der Kundenleistung eine intensive Zusammenarbeit mit Partnern und Zulieferern notwendig ist, empfehlen sich agile Verfahren, da sie tendenziell die Zusammenarbeit erleichtern und eine schnellere Lieferung der Gesamtleistung ermöglichen.
Erfolgsbeispiele
Die Medien berichten meist von Success Stories von Großunternehmen wie Daimler (Automotive), Robert Bosch (Elektronik) oder der AXA (Financial Services). Diese starteten eine größere Ausbildungsoffensive und erzielen danach in zahlreichen Projekten kürzere Laufzeiten und weniger Steuerungskosten.
Doch geht der Trend zu agilen Methoden durch die gesamte Unternehmenslandschaft. Bei den Start-Ups können N26 (Financial Services), Blinkist (Learning), Yello Strom (Energy), oder moovel (Mobility) genannt werden. Servicestarke, dynamische und auf Kundenanforderungen ausgerichtete Unternehmen sind Trivago (Tourism), Mymuesli (Food) oder Zalando (Fashion). Neben privatwirtschaftlichen Unternehmen verändern auch kirchliche Organisationen wie einzelne Diözesen der katholischen Kirche, die Essener Wirtschaftsförderung und seit vielen Jahren die US Navy Führungsstrukturen und Prozesse.
Herausragende Mittelständler sind die PTV Group (Software Development), Takkt AG (Delivery) oder Trumpf (Manufacturing, Engineering). Wie erfolgreiche Transformation mit dem Einsatz agiler Methoden funktionieren kann, zeigt die Firma Viessmann: die Transformation startete 2015 auf Anregung des Seniorchefs. Der Markt hatte sich durch Vernetzung verändert. Heizsysteme waren in ein Ecosystem eingebunden: Start-ups mit neuen Ideen kamen auf, Aggregatoren integrierten Heizsysteme, Energieunternehmen und Serviceanbieter, neue Wettbewerber wie RWE und auch Telekommunikationsunternehmen drängten auf den Markt. Der Servicebereich wurde immer wichtiger.
Mit dem Einsatz von Sensoren in Heizungen und in beheizten Räumen und Gebäuden wurde die Heizanlage zu einem System im Verbund mit anderen. So wie sich die Heizsysteme vernetzten, musste sich auch das Unternehmen Viessmann vernetzen, um im Wettbewerb zu bestehen und schuf ein eigenes Unternehmen in Berlin.
Zentrale Aufgabe für das Unternehmen war das Commitment der Mitarbeitenden. Denn die Umstellung auf agile Methoden in der digitalen Transformation ist immer auch ein Change- beziehungsweise Kulturthema: Es gilt, die intrinsische Motivation der Mitarbeitenden zu wecken, sie zu motivieren und zur Entwicklung neuer Ideen anzuregen. Dabei wirken selbst sanfter Druck von außen und die Aufforderung, nun doch im Team zusammen zu arbeiten, kontraproduktiv und erzeugen Reaktanz.
Nicht jede Fragestellung ist geeignet für agile Methoden
Hier soll jedoch nicht der Eindruck entstehen, Agilität sei ein Allheilmittel. Schließlich wollen alle schnell und flexibel sein, daher ist „agil“ das Mittel der Wahl. Oft werden ein, zwei Techniken angewendet wie zum Beispiel Time boxing oder ein Stand-up Meeting, und schon ist man – vermeintlich – agil. Auch wenn ansonsten der Chef die Richtung vorgibt und auch kontrolliert.
Unternehmen mit klaren Vorgaben
Viele Unternehmen haben ganz klare Vorgaben, zum Beispiel Automobilzulieferer. Diese Unternehmen entwickeln auf Plattformen und haben meist mehrere Entwicklungsstandorte, zum Beispiel in den U.S.A, Europa und Asien. Hier sind Lösungsweg und Kundenanforderungen klar definiert (Stacey-Matrix). Agile Methoden sind dort wenig geeignet, um wirtschaftlich erfolgreich zu arbeiten.
Großunternehmen: Agilität fördert Informationsfluss
In Großunternehmen arbeiten viele Menschen. Das Denken in Silos ist verbreitet und oft wird „das Rad mehrfach erfunden“. Für diesen Unternehmenstyp sind agile Verfahren grundsätzlich geeignet, denn mehr Menschen zu beteiligen und die Teams interdisziplinär zu besetzen, fördert den Informationsfluss und verbessert die Lösungen tendenziell.
Agile Methoden im Mittelstand
In mittelständischen Unternehmen arbeiten meist eingespielte Expertenteams an Lösungen und die Verfügbarkeit der Mitarbeitenden ist begrenzt. Das gleiche Vorgehen wie in Großunternehmen würde diese Unternehmen bremsen. Aufgaben würden unerledigt bleiben und die Experten müssten die anderen Kollegen im Team erst unterweisen, um ein Gespräch auf Augenhöhe zu ermöglichen.
Agilität ist kein Grassroot Approach
Agilität ist auch kein Grassroot Approach. Agilität erfordert das Bekenntnis, den Rückhalt und die Förderung durch das Management. Die Bereitschaft, bei der Zusammenarbeit aus Fehlern zu lernen und sich kontinuierlich zu verbessern, sind wichtig. Das Unternehmen muss auch hinreichend groß sein, um die Investitionen später über das Skalieren der Leistung zu verdienen. Bei der Entscheidung, agil zu arbeiten, empfiehlt es sich, in ausgewählten Bereichen, wie der IT, der F&E Abteilung oder dem Produktmanagement zu starten.
Empfehlungen und Fazit
Agile Verfahren bieten die Chance, die eigene Organisation zu mobilisieren und besser auf den Markt und die Kunden auszurichten.
Allerdings ist zunächst ein Businessziel zu formulieren und die oben genannten Kriterien zu beachten. Agilität ist kein Selbstzweck, sondern ein methodisches Vorgehen, das die Ziele nachhaltig kostengünstiger und besser erreicht.
Agilität ist vor allem ein Kulturthema. Wichtigste Voraussetzung: Das Management muss die Mitarbeitenden ermutigen, unternehmerisch zu handeln, ihre intrinsische Motivation zu entdecken und auszuleben. Gerade mittelständische Manager sollten die Ambidextrie beherrschen und in einer hybriden Vorgehensweise die Vorteile der klassischen Herangehensweise mit agilen Methoden kombinieren. Dies ist die beste Ausgangsposition, um die Reise zu einer agilen Unternehmenskultur anzutreten und geeignete Strukturen, Prozesse und ein mitarbeiterzentriertes Führungsverständnis anzutreten.
Literatur
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Biallas, Stephan, Alan Yilmaz, (2020); Die „Digital Roadmap“ als Wegweiser durch den Dschungel der Digitalen Transformation, Seite 45-60; Fortmann, Harald, R. (Hrsg.), Digitalisierung im Mittelstand; Trends, Impulse und Herausforderungen der digitalen Transformation; Springer Verlag, Wiesbaden
Lindner, Dominic. (2019) Studie 4: Agilität als Folge oder Voraussetzung der Digitalisierung?, Seite 37-45; KMU im digitalen Wandel. Essentials; Springer Gabler Verlag, Wiesbaden.
Puhr, Markus, (2018), CDO der Viessmann Gruppe. „Digitale Transformation: Strategien und Erfahrungen der Viessmann Gruppe“; Hochschulallianz für den Mittelstand. 2. Transferkongress der Hochschulallianz für den Mittelstand vom 24.01.2018, „Regionaler Transfer 4.0: Digitalisierung und Innovation für den Mittelstand“
Rose, Moritz, (2020); Was jedes Unternehmen von digitalen Playern abschauen sollte: Gestaltung von Kundenmehrwert am Beispiel der agilen Viessmann Design-Einheit, S. 149-154; Fortmann, Harald, R. (Hrsg.) Digitalisierung im Mittelstand; Trends, Impulse und Herausforderungen der digitalen Transformation; Springer Gabler Verlag, Wiesbaden
Schulke, Arne; Jütte, Silke (2020), Kann der deutsche Mittelstand „agil“? Whitepaper zum Forschungsprojekt der Internationalen Hochschule, IUBH, Campus Studies, Bad Honnef, Bonn
Ternès, Anabel; Schieke, Sebastian (2018), Megatrend Digitalisierung: Wo steht der deutsche Mittelstand aktuell? ; Seite 5-18; Mittelstand 4.0; Wie mittelständische Unternehmen bei der Digitalisierung den Anschluss nicht verpassen; Springer Verlag, Wiesbaden 2018
Vohl, Hans-Jörg (2017); Agilität zur Steigerung der Veränderungsintelligenz einer Organisation, Seite 169-192; Baltes, G., Freyth, A. (Hrsg.) Veränderungsintelligenz. Springer Gabler, Wiesbaden
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