„Agiles Arbeiten ist nachhaltig und vermeidet Überlastung“ – Interview mit Bernd Ettelbrück

Bernd Ettelbrück

Bernd Ettelbrück

30. Juli 2021

Viele Unternehmen geben sich selbst den Stempel „agil“ – setzen das Prinzip des agilen Arbeitens aber nicht konsequent um. Warum agiles Arbeiten nur gepaart mit einer neuen Führungs- und Unternehmenskultur funktionieren kann und welche Alternativen es zum SAFe®-Framework gibt, schildert Bernd Ettelbrück im TCI-Interview. Er ist Autor des Beitrags „Agilität im Management“ im neu erschienen Sammelband Agilität in Unternehmen“.

Hinweis der TCI-Redaktion: Hier geht es direkt zu Teil Zwei des Interviews – „Was agile Führung von militärischen Prinzipien lernen kann“.

Agiles Arbeiten muss ganzheitlich umgesetzt werden

Katja Heumader: Ein wichtiger Satz in Ihrem Beitrag lautet „Viele Unternehmen verwenden agile Methoden, sind es aber nicht.“ Warum ist das ein Problem?

Bernd Ettelbrück: Agile Inseln im Meer konventioneller Arbeitsweisen beschleunigen das Vorankommen nicht erheblich. Immer wieder muss man schwimmen, sich am Ufer trocknen, orientieren, laufen und dann wieder der Wechsel in die Badehose zur nächsten Station. Dieses Bild, wertet nicht, Agilität ist nicht grundsätzlich besser als konventionelles Vorgehen. Es ist eine Frage – wie in anderen Kontexten auch – der Verbindungsstellen und wie sie bedient werden. Die Verbindungsstellen heißen Kultur und Management.

Agil bedeutet iteratives, transparentes Vorgehen vor allem in der Softwareentwicklung. Kleine Schritte, schnelles Feedback, überschaubare Planungszyklen. Das heißt weniger Risiko, schnellerer Erfolg und realistische Planung und beschreibt modernes Management und Teamarbeit. Und jetzt kommen die Herausforderungen:

Einen Projektleiter gibt es nicht, das ganze Team ist verantwortlich. Wen macht das Management verantwortlich für Misserfolge? Wie profiliert sich der Projektleiter im Erfolgsfall? Und wie steht es mit der Fehlerkultur? In den meisten Unternehmen, die ich kenne, heißt „Fehler machen“ „Scheitern“ und bedeutet sicher keinen Karrieresprung. Bei Misserfolgen werden „Schuldige“ gesucht und meist auch gefunden. Die werden dann als Einzelne sanktioniert, damit das große Ganze weiter machen kann.

Produktentwickler, -designer und -manager sind an der Technologie interessiert und begeistern sich für Features. Kunden interessieren sich eher für einfache Bedienung und Arbeitserleichterungen. Frühes, negatives Feedback von Nutzern kann bedeuten, dass Funktionalitäten nicht weiterentwickelt, oder technologische Fortschritte nicht finanziert werden.

Risikoreichere oder sehr innovative Projekte können nur weitergeführt werden, indem das Management Risiken gezielt verschleiert oder mit politische Spielchen Umsetzungen vorantreibt, da sonst der Projektabbruch droht.

Außerdem gibt es unterschiedliche Interessen: die Unternehmensführung möchte mit geringen Kosten in kurzer Zeit Projekt realisieren. Die Umsetzenden, oft externe Dienstleister, sind an Folgebeauftragungen und langen Konzeptions- und Realisierungsphasen interessiert. In Unternehmen gibt es eine Vielzahl von Interessen, die oft in Konflikt stehen. Agiles Handeln geht davon aus, dass in autonomen Teams alle Teammitglieder die gleichen Interessen am Erfolg des Projektes haben. Das ist in der Realität nicht immer der Fall.

Die meisten Unternehmen arbeiten immer noch nach tayloristischen Prinzipien: Effizienz und Skalierung werden angestrebt. Pläne, Zielvorgaben und Budgetrahmen zur Erreichung bestimmen die Abläufe. Die Einhaltung der Budgets und die Umsetzung sind zu kontrollieren und damit auch die Menschen. Es gibt Hierarchien und an vielen Stellen sind Denken und Handeln dissoziiert, das heißt es gibt Menschen, die denken – das sind die Führungskräfte – und die handelnden Mitarbeitenden.

Agiles Arbeiten folgt aber anderen Prinzipien: motivierte Mitarbeitende richten ihr Handeln am Kunden aus und organisieren sich in selbstverantwortlichen Teams. Die Arbeitsweise ist nachhaltig und vermeidet Überlastungen durch kontinuierliche Geschwindigkeit.

An den Stränden der agilen Inseln treffen diese Prinzipien, die teils in Konflikt stehen, aufeinander und verursachen zum Teil hohe Wellen. In der Unternehmensrealität bedeutet das, dass ca. 70-80 % der agilen Transformationen scheitern und die anderen 20-30 % so dahindümpeln. Kultur zeigt sich im Handeln, weniger im Denken. Ein „agiles Mindset“ zu bilden ist aus diesem Grund meines Erachtens Unfug, auch wenn es teure Seminare mit solchen Titeln gibt.

Management und Unternehmenskultur sind erfolgsentscheidend

KH: Wann kommen agile Arbeitsweisen wie SAFe® an ihre Grenzen?

BE: Agiles Arbeiten mit SAFe® kann nur in dem Maß funktionieren, wie es das Management und die Unternehmenskultur zulassen. Agile Frameworks wie SAFe werden als Methoden eingesetzt, die das neue Arbeiten organisieren. Mittlerweile gibt es rund fünfzig (Erweiterung auf der Grundlage des australischen Beraters und Coaches Craig Smith von 2015) verschiedene agile Methoden und Frameworks zur Skalierung wie Abbildung 1 zeigt. Die Prinzipien des agilen Manifests werden nicht etabliert oder nur soweit sie den Unternehmensprinzipien nicht widersprechen. Damit eine agile Transformation funktioniert und agil gearbeitet wird, müssen Unternehmen ihre Prinzipien wechseln, das heißt die Führung und die Organisation anpassen, so dass sie mit den Prinzipien des agilen Manifests in Einklang sind.

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Abbildung 1: Agile Methoden und Frameworks. (Bild: © Bernd Ettelbrück)

Die Grenzen von SAFe liegen also weniger in der Methode, sondern daran wie der Methode durch den Unternehmenskontext Grenzen gesetzt werden. Eine weitere Grenze für die Anwendung agiler Arbeitsweisen ist das Marktumfeld. Nicht immer ist Agilität richtig und gefragt. In vielen Bereichen kommt es auf Präzision an, perfektes Produzieren in einem vorgegebenen Rahmen in einem definierten Prozess mit klaren Vorgaben und einer Führung, die auf deren Einhaltung achtet. Nicht alle Märkte sind komplex oder zeichnen sich durch eine hohe Innovationsgeschwindigkeit aus. Agiles Arbeiten wäre hier zu aufwendig, würde zu Verzögerungen und Mehraufwendungen durch Abstimmungen führen. Die Kosten würden steigen und die Produktivität im besten Fall stabil bleiben.

KH: Welche Rolle spielt die Art der Personal- und Unternehmensführung bei SAFe®?

BE: Die Unternehmensführung und unterstützend die Personalführung trainieren mit ihren Mitarbeitenden Teamarbeit und passt agile Arbeitsweisen und agiles Arbeiten an sich an die betrieblichen Abläufe und Ziele an.

Liest man Managementliteratur, dann beantwortet Agilität alle Fragen der VUCA-Welt und suggeriert, dass es Komplexitätsreduktion und mehr Selbstorganisation auf Teamebene braucht, und schon werde das Unternehmen schneller, einfacher, kostengünstiger und damit viel wettbewerbsfähiger. Leider geht das so nicht.

Ein großes Handelsunternehmen arbeitet seit Jahren in der Softwareentwicklung sehr erfolgreich agil. Nun soll der Roll-out in allen Filialen weiter beschleunigt werden und durch agiles gemeinsames Arbeiten in gemischten Teams inkrementelle Veränderungen und Verbesserungen der Software schnell implementiert und für Kunden nutzbar gemacht werden. Ein guter Plan!

Filialmitarbeitende sind aber keine Entwickler, ihre Fehlerbeschreibungen und Schilderungen sind selten klar und Kunden sind keine Tester, sie können und wollen nicht testen, sondern einkaufen. Im Ergebnis wurden Releases kaum noch verbessert und viele Neuentwicklungen wurden implementiert. Servicekosten stiegen und die Kundenzufriedenheit fiel. Kein gutes Ergebnis agilen Managements.

Führung soll heute Mitarbeiter befähigen, selbstorganisierte Teams unterstützen und mehr Selbständigkeit wagen, Entscheidungen nach unten delegieren. Agiles Management ist dazu ein willkommenes Instrument. Agil heißt schnell, flexibel und ist dabei oft beliebig.

Herausforderungen in Unternehmen sind ein globales Umfeld mit neuen Konkurrenten und einem zumindest teilweise unbekannten Markt. Viele Unternehmen beklagen ein Silodenken, was Manager selbst geschaffen haben, weil Bereiche aufgefordert waren sich selbst zu optimieren und positive Zahlen abzuliefern, gerne hat man den Ball ins andere Feld gespielt und war fein raus. Die Technologie ändert sich schnell, Künstliche Intelligenz und Deep learning sollen schnell eingeführt und genutzt werden, Fachleute und Weiterbildungskonzepte hierzu fehlen jedoch.

Um all das zu leisten, werden nicht selten zeitlich begrenzte Parallelorganisationen geschaffen. Sonderrollen und neue Teams werden geschaffen, die an Bürokratie und Hierarchie vorbei alte Probleme lösen sollen. Und so weiter.

Was macht erfolgreiche Teams aus? Die amerikanische Unternehmensberatung Vantage Leadership Consultants aus Chicago beschäftigt sich seit vierzig Jahren mit dieser Frage und nennt fünf Punkte:

  1. Ein klares Ziel für das Team ist definiert
  2. Gemeinsame Verantwortung für Ergebnisse
  3. Transparente Kommunikation
  4. Konstruktives Lösen von Konflikten
  5. Respekt und gegenseitiges Vertrauen

Das zu etablieren ist meines Erachtens die Aufgabe des Managements und dabei sollte sie von der Personalabteilung in der Planung und Umsetzung unterstützt werden.

KH: Aus welchen Gründen entscheiden sich Unternehmen für die Einführung des Scaled Agile Frameworks, kurz: SAFe®?

BE: Viele agilen Methoden wie Scrum oder Kanban beschreiben das methodische Vorgehen für einzelne Teams. Hinweise wie ganze Organisationen agil arbeiten, oder wie mehrere agile Teams, die an einem Projekt arbeiten oder mehrere agile Projekte parallel zu steuern sind, fehlen. Skalierungsansätze wie SAFe® stellen ein Rahmenwerk für Unternehmen bereit, die sich agil transformieren oder überwiegend agiles Projektmanagement anwenden möchten. SAFe® bearbeitet den Markt erfolgreich, integriert neue Themen wie Kundenfokussierung und eignet sich auch für hybride Ansätze, das heißt die Mischung aus agilem Vorgehen zum Beispiel in der Softwareentwicklung und klassischem Vorgehen in der Produktentwicklung.

Agile Methoden beziehen sich auf Prozesse und einzelne Teams. Fragen nach den Einstellungen, die agiles Arbeiten unterstützen, oder Maßnahmen zur Sicherung einer hohen Ergebnisqualität beantworten diese Methoden nicht. SAFe® schließt Lücken und erleichtert Unternehmen ein systematisches Vorgehen. In Unternehmen und deren Zulieferbetrieben arbeiten oft Teams mit verschiedenen methodischen Ansätzen, zum Beispiel einem Kanban-Board zusammen. Das erschwert die Zusammenarbeit und Abstimmung. Oft dringen die neuen Vorgehensweisen gar nicht bis zur Unternehmensleitung vor. SAFe® kann helfen, das Management besser in die agilen Arbeitsweisen einzubinden und verschiedene Teams auch im selben Unternehmen besser zu koordinieren.

SAFe®: Zu komplizierte Strukturen?

KH: Sie aber behaupten in Ihrem Beitrag, SAFe® sei lediglich ein „Instrument des Übergangs“, das dabei helfen könne, in größeren Unternehmen agile Arbeitsweisen zu skalieren – plädieren aber für Alternativen. Aus welchen Gründen?

BE: SAFe® ist ein Skalierungsansatz unter vielen. Die gängigsten „Frameworks“ sind in der Abbildung 2 anhand der Kriterien Skalierbarkeit und Komplexität eingeordnet. Ich habe diese beiden Kriterien zu operationalisieren, je nach Anwendung und Kontext kann das variieren. Zum Beispiel den Scrum of Scrums, Nexus, disciplined agile delivery oder den large scale Scrum (LESS), um nur einige zu nennen.

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Abbildung 2: Agile Skalierungsmethoden (Bild: © Bernd Ettelbrück)

Für SAFe® spricht, dass das Rahmenwerk dazu beiträgt an Einstellungen in Unternehmen zu arbeiten, was gerade in großen, über einen längeren Zeitraum gewachsenen Unternehmen erfolgreich sein kann. Außerdem unterstützt SAFe® hybride Ansätze, das heißt den Einsatz agiler Verfahren in einigen Bereichen, während andere Funktionsbereiche noch traditionell arbeiten. Das kann fachlich sinnvoll sein und vermeidet zu große Änderungen, die zu Widerstand oder Diskussionen führen könnten.

Ich empfinde das Diskutieren eines „agilen Mindset“ als theoretisch und oft schwammig. Das Rahmenwerk von SAFe® ist eine agile Overlay Struktur zur vorhandenen Organisationsstruktur. Es wird eine Art Management neben dem Management aufgebaut, das mit denselben überholten Managementpraktiken führt und entscheidet. Beides ist definitiv nicht agil.

SAFe® bietet verschiedene Ausbaustufen, je nach Projektgröße und -komplexität. In Abhängigkeit der Ausbaustufen gibt es bis zu vier Ebenen: je eine für das Team, das Programm, das Portfolio und die Large Solution Ebene, die die Wertströme kontrollieren soll.

In den Ebenen gibt es Rollen: den Product Manager, den Systemarchitekten und den Release Train Engineer. Dann gibt es den Business Owner, der den RoI, die Kosten und den Nutzen überwacht und natürlich den Kunden, an dessen Anforderungen sich die Arbeit ausrichtet. In den Ebenen mit höherer Komplexität kommen weitere Rollen dazu, um der steigenden Komplexität gerecht zu werden. Und all das wird neben dem traditionellen Management installiert.

Das widerspricht dem agilen Prinzip flacher Hierarchien und erhöht meines Erachtens erheblich die Komplexität. Andere Skalierungsmethoden sind schlanker und orientieren sich mehr an agilen Prinzipien, ein Beispiel ist das oben erwähnte LESS.

Einfuehrung agiler Methoden-15th State of Agile Report
Abbìldung 3: Nutzung agiler Methoden (Bild: © Bernd Ettelbrück; Datenbasis: 15th State of Agile Report)

Gleichzeitig ist SAFe® ein beliebter Orientierungsrahmen. Über die Jahre hinweg hat sich SAFe® als führendes Framework für die Skalierung agiler Methoden etabliert. 37% der Befragten setzen SAFe® ein wie Abbildung 3 aus dem aktuellen 15th State of Art agile Report vom 09.07.2021 zeigt. Besonders größere Unternehmen bedürfen einer festen Struktur in einer Phase des Übergangs, um den Wandel von traditionellen und komplexen Organisationsstrukturen zu selbstorganisiertem Arbeiten mit schlankeren Prozessen erfolgreich zu gestalten.

KH: Herr Ettelbrück, herzlichen Dank für diese umfassenden Einblicke in agile Arbeitsweisen, SAFe® und die Alternativen.

Das Interview mit Bernd Ettelbrück führte Dr. Katja Heumader für die TCI-Redaktion.

Lesen Sie auch Teil Zwei des Interviews – „Was agile Führung von militärischen Prinzipien lernen kann“.

„Agilität in Unternehmen“: theoretisch fundiert und praxisnah

Agilitaet in Unternehmen Buchcover
Bild: © Springer Verlag

Im Fokus von „Agilität in Unternehmen“ steht die praktische Anwendung der Konzepte. Die Beiträger:innen des Sammelbandes decken dabei – neben der Einführung in die theoretischen Grundlagen – verschiedene Bereiche ab: Unternehmens- und Personalführung, Organisationsmanagement, Evaluation und Controlling, Entscheidungsverhalten, Rollen in Projekten sowie das Management von Geschäftsprozessen.

„Agilität in Unternehmen“ richtet sich an unternehmensinterne und -externe Praktiker:innen, für die Transformationsmanagement im Zentrum ihrer Aufgaben steht. Coaches, Business-Verantwortliche, Geschäftsführer:innen und andere Entscheidungsträger profitieren von den umfassenden Perspektiven des Sammelbandes ebenso wie Wissenschaftler:innen und Dozent:innen mit den Schwerpunktfächern Organisation, Agiles Management, Projektmanagement, Business Management, Change Management, Produktmanagement, Entwicklung, Prozessmanagement und Strategisches Management.

Hinweis der Redaktion:

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Quelle Coverbild: © Stock Rocket / stock.adobe.com

Über den Autor

Bernd Ettelbrück

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Bernd Ettelbrück verfügt über langjährige internationale Linien- und Projekterfahrung, u.a. in der Telekommunikationsindustrie, im Patent- und Produktmanagement sowie Innovationsmanagement; aktueller Fokus: Maschinenbau und Automobilzulieferindustrie.

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