Zwar mag Estland flächenmäßig nicht groß sein. Das baltische Land hat jedoch eine beeindruckende Entwicklung innerhalb der letzten 30 Jahre bewerkstelligt und gehört in den Bereichen Digitalisierung und Bildung zu den Pionieren. Das beweisen das estnische Bildungssystem, die umfassende Verfügbarkeit und Nutzung des Internets und Estland als digitaler Staat als Ganzes. Hinzu kommt auch Latitude59: Dieses internationale Start-up- und Technologieevent in der estnischen Hauptstadt Tallinn bietet jedes Jahr spannende Einblicke in die erste digitale Gesellschaft der Welt.
Bildung in Estland hat Vorreiterpotenzial
Im estnischen Schulsystem werden die Schüler werden in der Regel von der ersten bis zur neunten Klasse gemeinsam unterrichtet. Erst nach dieser Phase steht die Entscheidung an, ob sie weiterhin zur Schule gehen und einen weiterführenden Abschluss machen wollen. Wer sich für das Gymnasium entscheidend, bekommt meist einen Platz, selbst bei einem verbesserungsfähigen Notenschnitt.
Im Bereich digitales Klassenzimmer nimmt Estland eine absolute Vorreiterrolle ein: Schon Mitte der 1990er Jahre wurde ein Programm initiiert, um alle estnischen Schulen innerhalb von fünf Jahren mit einem Internetzugang und Computern zu versorgen.
Robotik-Projekte finden bereits im Kindergarten statt und Programmieren steht ab der ersten Klasse auf dem Lehrplan. Selbst das Smartphone findet im Unterricht Anwendung und wird nicht als Mittel zur Ablenkung gebannt. Der Schulalltag wird weitgehend über eine Online-Plattform organisiert, die fast alle Lehrer, Schüler und Eltern nutzen. Diese Plattform dient für vielseitige Zwecke, wie etwa
- Lehr- und Stundenpläne
- Notenvergabe
- Hausaufgaben
- Dokumentierung von Fehlzeiten.
Des Weiteren nutzen die Lehrer Smartboards statt Tafeln. Als Zielsetzung gilt, dass bis 2020 sämtliche Unterrichtsmaterialien digital vorliegen sollen.
Die Ergebnisse überzeugen: Das kleine baltische Land rückte mit seinem digitalen Klassenzimmer im PISA-Ranking auf Platz eins in Europa vor.
Problematisch im Schulsystem ist jedoch, dass russischstämmige Esten noch immer russische Schulen besuchen, in denen Russisch die Primärsprache ist und Estnisch nur ein Schulfach. Zudem ist die Rolle des privaten Umfeldes enorm wichtig, gerade wenn dort kein Estnisch gesprochen wird. In dem kleinen Land leben mehr als 40.000 Studenten. In Tallinn gibt es eine Universität und eine technische Universität. Die zweitgrößten Stadt Tartu ist eine richtige Studentenstadt – jeder Fünfte ist dort Student.
Internet in „E-Estonia“
Die Netzabdeckung ist Estland ist hervorragend, was Verfügbarkeit und Bandbreite betrifft, und das sowohl in der Stadt als auch auf dem Land. In 98 Prozent des estnischen Territoriums steht 4G-Internet zur Verfügung.
In Zügen gibt es kostenloses W-LAN, und viele Esten nutzen unterwegs nicht nur Smartphones, sondern auch ihre Laptops. In mehr als 80 Prozent der Fälle waren dies Apple-Geräte, wie ich beobachten konnte.
Estnische Technologieunternehmen
Schon beim Thema Unterrichtssystem haben wir gesehen, dass Estland voll auf Digitalisierung setzt. Ein Auslöser für die digitale Euphorie war der Erfolg der Skype-Software. Skype Technologies wurde zwar von schwedischen und dänischen Unternehmern gegründet. Entwickelt wurde die Software aber Anfang der 2000er Jahre von Esten. Mittlerweile gibt es mit TransferWise und Bolt (früher Taxify) weitere Erfolgsbeispiele von aus Estland stammenden Unternehmen, die als Start-Ups begannen und mittlerweile milliardenschwer geworden sind. Das nächste gehypte Unternehmen ist das das von zwei Skype-CoFoundern gegründete Unternehmen Starship Technologies, das Lieferroboter herstellt.
Wie ein digitaler Staat funktionieren kann
Aber nicht nur im Unternehmenssektor ist Digitalisierung ein Thema: Estland selbst setzt als Staat auf die Digitalisierung. So verfügen beispielsweise alle estnischen Bürger über eine elektronische Identität. Diese ermöglicht zum einen den Zugriff auf ihr eigenes zentrales Verwaltungskonto, zum anderen die Nutzung zahlreicher privater Angebote. Mithilfe dieses Verwaltungskontos wird auch der Zugang zu allen staatlichen Dienstleistungen ermöglicht: von der digitalen Krankenakte bis hin zur Steuererklärung. Auch an Wahlen können Esten digital teilnehmen.
Das elektronische Steuersystem (E-Tax) wurde bereits vor fast 20 Jahren eingefügt und wird inzwischen für circa 95 Prozent aller Steuererklärungen genutzt. Die Basis dafür bietet der Login über eine sichere ID und Formulare, die automatisch ausgefüllt werden: Die Nutzer nehmen nur noch die notwendigen Änderungen vor. Mit diesem System dauert der hierzulande so langwierige Prozess der Steuererklärung gerade einmal drei bis fünf Minuten.
e-Residency
Estland ist das erste Land, das e-Residency anbietet: eine von der Regierung herausgegebene digitale Identität und sich wachsender Beliebtheit erfreut (siehe dazu auch unten).
E-Residency ermöglicht es digitalen Unternehmern, Geschäfte von überall her zu verwalten – vollständig online. Das Angebot richtet sich vor allem an Freelancer, Digitale Nomaden, Digitale Entrepreneure und Start-ups im Technologiebereich.
Cyber Security: Eine Antwort auf Hackerattacken
Dass derart auf Internet-Nutzung ausgerichtete Probleme bekommen kann, wurde im Frühjahr 2007 deutlich: Damals wollte die Stadtverwaltung von Tallinn das Denkmal des bronzenen Soldaten aus dem Zentrum an den Stadtrand verpflanzen. Das führte zu teilweise gewalttätigen Demonstrationen von Angehörigen der russischsprachigen Minderheit. Zeitgleich attackierten Hacker das Land. Ziele der Angriffe waren vor allem staatliche Organe, unter anderem
- das estnische Parlament
- der Staatspräsident
- diverse Ministerien
- Banken
- Medien.
Als Reaktion hat Estland die Cyber Defence Union gegründet. Sie richtet sich an die Internet-Gesellschaft in Estland und klärt über die Risiken im Web auf.
Latitude59: Vielseitige internationale Start-up- und Tech-Veranstaltung
Latitude59 ist eine zweitägige, jährlich stattfindende internationale Start-up- und Technologieveranstaltung in Tallinn. Die Veranstaltung sieht sich als Bindeglied zwischen regionalen Start-ups und Märkten, internationalen Investoren und möglichen Geschäftspartnern.
Einige der Schwerpunkte der diesjährigen Veranstaltung waren
- E-Residency
- die Nutzung von IT in der Medizintechnik
- Cyber Security
- Künstliche Intelligenz.
Interessant waren auch Präsentationen über die Entwicklung im Subsahara-Afrika, wie zum Beispiel das Rollout-Projekt des Bolt-Unternehmens. Auch waren zahlreiche Unternehmen aus dem Ausland vertreten. Bemerkenswert waren die Aussteller „Startup City Fukuoka“ aus Japan, den am schnellsten wachsende Start-up-Hub in Japan, und RoboValley dem Zentrum für Robotik mit Sitz in Delft, Niederlande.
Auf der Veranstaltung wurde zudem bekannt, dass weitere Länder das estnische e-Residency-Modell übernehmen wollen, unter anderem auch die Niederlande.
Fazit: Von Estland gibt es in punkto Digitalisierung viel zu lernen
Estland stand 1991 am Null-Punkt. In einem in Europa einmaligen Kraftakt schaffte es das Land mit einer Mischung aus mutiger Politik und aktiven Unternehmern innerhalb von Rekordzeit, die Voraussetzungen für den EU-Beitritt zu erfüllen. Mittlerweile ist Estland digitales Vorzeigebeispiel und Host einer aktiven, länderübergreifenden digitalen Community.
Will man sich über die neuesten Trends in den Bereichen Digitalisierung, Bildung, Mobilität und Gesellschaft informieren, ist Estland der Platz, an dem man sich nicht nur informieren kann, sondern dies auch erleben kann. Das war auch einer meiner Intentionen, als ich nach Estland gereist bin. Das Land und die Latitude59 gab uns wieder einige neue Inhalte für unsere Toolbox trend2ability – es war definitiv ein Besuch, der sich gelohnt hat.
(Coverbild: Eröffnung der Latitude59 in der estnischen Hauptstadt Tallinn; Bild: © Patrick Müller / TCI GmbH)