Dass die Welt immer unsicherer wird – neudeutsch VUCA genannt – ist schon lange bekannt. Im Leben von jedem Einzelnen hat sich das nun auch infolge der Corona-Pandemie manifestiert. Was muss Führung leisten in einer unsicheren und komplexen Welt? Mit dieser Frage setzen sich Gabriele und Georg Leppelmann im Rahmen ihres Beitrags „Sicherheit in der Unsicherheit – eine Landkarte für Führung in der Selbstorganisation“ im TCI-Band „Agilität in Unternehmen“ auseinander. Besonders wichtig: Bei aller Flexibilität und Agilität darf die Vision, der Blick aufs große Ganze, nicht verloren gehen.
Gemeinsame Aufgaben lassen sich nur mit Eigenverantwortung bewältigen
Katja Heumader: Wir leben in einer VUCA-Welt (volatil, unsicher, komplex und mehrdeutig) – hat die Corona-Pandemie und die damit verbundenen Auflagen und Einschränkungen diese Eigenschaften noch verstärkt?
Georg Leppelmann: Ja, die Pandemie hat unsere Aufmerksamkeit wie ein Brennglas darauf gelenkt, dass die Welt immer unbeständiger, unsicherer, verflochtener und mehrdeutiger wird. Die Situation betrifft alle Bereiche unseres Lebens und viele Menschen suchen in diesen Zeiten nach Halt und Richtung. Gleichzeitig wird deutlich, wie wichtig eine gemeinsame Bekämpfung der Pandemie ist. Und wir müssen erkennen, dass wir unser Verhalten besser, schneller und flexibler an drastische Veränderungen anpassen müssen.
KH: Corona können wir nur bekämpfen, indem wir alle unser Verhalten – weitestgehend eigenverantwortlich! – anpassen. Lassen sich hieraus Erkenntnisse für moderne Führung ableiten?
Gabriele Leppelmann: Wir können gerade beobachten, was passiert, wenn durch zu starke Kontrolle und Einschränkungen die Eigenverantwortung der Menschen verloren geht. Was aber notwendig ist, um eine gemeinsame Aufgabe zu bewältigen, ist ein aufeinander abgestimmtes und eigenverantwortliches Handeln.
Moderne Führung, wie wir sie verstehen, schafft daher einen Rahmen, der diese Eigenverantwortung ermöglicht. Menschen brauchen beispielsweise ein Gefühl von Sicherheit, um kreativ und lösungsfokussiert zu handeln. Diese Sicherheit kann Führung auch in der Unsicherheit vermitteln. Dazu setzen wir in unserem Führungsschema besonders darauf, den Sinn der gemeinsamen Aufgaben transparent zu machen. Und gleichzeitig auf Maßnahmen, die das gegenseitige Vertrauen stärken. Denn letztendlich kommt es bei der Bewältigung gemeinsamer Aufgaben auf die selbstverantwortliche Umsetzung jedes und jeder Einzelnen an.
Wir brauchen Visionen, die uns vereinen
KH: Unsere Vision für „nach Corona“ ist das Wegfallen aller Beschränkungen – das Wiedererlangen unserer ganzen Freiheit. Welche Visionen sind geeignet, um in Unternehmen dafür zu sorgen, dass alle an einem Strang ziehen?
GEL: Auch nach Corona wird die Welt nicht weniger VUCA sein und Unternehmen werden schwierige Aufgaben bewältigen müssen. Dazu braucht es Visionen, die möglichst von allen geteilt werden. Daher ist es wichtig, dass bereits bei der Entwicklung von Visionen Gemeinsamkeit gestärkt wird. Denn in einer gemeinsam entwickelten Vision findet sich jede:r wieder und hat einen Platz. Und gemeinsame Aufgaben bekommen so für Alle Sinn und können besser eigenverantwortlich umgesetzt werden.
KH: Welchen Stellenwert nehmen Visionen, ein Big Picture, bei SAFe® ein?
GEL: Nach den Prinzipien von agilen Frameworks wie SAFe® kommt eine Vision gemeinsam, Schritt für Schritt zustande und wird auf allen Unternehmensebenen immer wieder weiterentwickelt. Der Prozess der gemeinsamen Entwicklung spielt dabei eine bedeutende Rolle. Denn durch Beteiligung der Menschen an der Entwicklung gibt das Big Picture sowohl Sicherheit als auch eine wirksamere Orientierung. Gerade im kleinschrittigen agilen Arbeiten ist es wichtig, dass so das große Ganze nicht verloren geht.
KH: Die Intuition erlebt seit einigen Jahren ein Revival im Management – welche Rolle spielt sie bei SAFe® und anderen agilen Regelwerken?
GAL: Intuition bestimmt einen großen Teil des menschlichen Denkens. Dabei werden Entscheidungen zum größten Teil unbewusst gefällt und beruhen auf einfachen Faustregeln. Je komplexer Probleme werden und je schneller Entscheidungen getroffen werden müssen, umso wichtiger wird daher die Intuition. Gerade in der VUCA-Welt, wo oft schnelle Entscheidungen auf unsicherer Basis getroffen werden müssen, kann mehr Vertrauen auf intuitives Wissen Zeit und damit wertvolle Ressourcen sparen. Wenn es klar definierte Probleme und kluge Algorithmen zu deren Lösungen gibt, dann sollte man den Algorithmus anwenden. Beim agilen Vorgehen geht es aber meist um Lösungen, die erst in der Umsetzung entstehen. Sozusagen der Weg, der im Gehen entsteht. Da braucht es immer wieder auch intuitives Vorgehen, um sich schnell für die richtige Weggabelung zu entscheiden.
KH: Vielen herzlichen Dank für Ihre Zeit und Ihre Ausführungen.
Das Interview mit Gabriele Leppelmann und Prof. Dr. Georg Leppelmann führte Dr. Katja Heumader für die TCI-Redaktion.
„Agilität in Unternehmen“: theoretisch fundiert und praxisnah
Im Fokus von „Agilität in Unternehmen“ steht die praktische Anwendung der Konzepte. Die Beiträger:innen des Sammelbandes decken dabei – neben der Einführung in die theoretischen Grundlagen – verschiedene Bereiche ab: Unternehmens- und Personalführung, Organisationsmanagement, Evaluation und Controlling, Entscheidungsverhalten, Rollen in Projekten sowie das Management von Geschäftsprozessen.
„Agilität in Unternehmen“ richtet sich an unternehmensinterne und -externe Praktiker:innen, für die Transformationsmanagement im Zentrum ihrer Aufgaben steht. Coaches, Business-Verantwortliche, Geschäftsführer:innen und andere Entscheidungsträger profitieren von den umfassenden Perspektiven des Sammelbandes ebenso wie Wissenschaftler:innen und Dozent:innen mit den Schwerpunktfächern Organisation, Agiles Management, Projektmanagement, Business Management, Change Management, Produktmanagement, Entwicklung, Prozessmanagement und Strategisches Management.
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